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(c) P.Copper, Drahtlos

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3.2 Röhrenwerfen

Drahtlos hatte neben seinem Wohn- und Arbeitshaus einen Schuppen mit allerlei Schrott. Dieser erwies sich als Magnet für die älteren Jugendlichen, die Drahtlos meist nicht kannte. Sie kamen manchmal nachts und durchsuchten das Material, zum Teil weil sie selbst etwas brauchten. Dabei gab es die Angewohnheit, jedesmal einige alte Röhren auf dem Weg bis zum Gartentor zu zerdeppern, vermutlich, weil es so schön knallt. Drahtlos konnte dann am nächsten Morgen die Trümmer auffegen, wobei es sich meist auch noch um Röhren handelte, die er noch einmal gebrauchen konnte.

Technische Hinweise: Röhren

Ist Ihnen schon einmal eine Glühlampe aus der Hand gefallen und am Boden zerplatzt? Dann wissen Sie schon ungefähr, auf welches Geräusch die jugendlichen Freunde des Ingenieurs Drahtlos aus waren, als sie noch in seinem Garten Röhren zerschmetterten. Dieses satte "Ploff" ist ein Klang von besonderer Ausdrucksstärke, es hat etwas Kraftvolles und Endgültiges. Die Ursache ist ein plötzlicher Druckausgleich, denn in Glühlampen herrscht ein starker Unterdruck. Röhren sind sogar völlig luftleer, das Geräusch ist daher noch stärker.

Wenn Sie einmal das Glück haben, auf einem verstaubten Dachboden einen Fernseher aus den 70er Jahren zu finden, dann bauen Sie die größte Röhre aus. Sie sieht etwas aus wie eine Glasflasche, sie ist circa 10 Zentimeter lang und 3 Zentimeter dick, hat mehrere Metallstifte am Boden und einen Anschluss am oberen Ende. Vielleicht ist es eine PL504 oder sogar eine noch größere PL509. Entstauben Sie die Röhre oder waschen Sie sie einfach mit Wasser ab, das schadet nicht, höchstens könnte die Beschriftung etwas leiden. Holen Sie dann auch noch eine möglichst große Glühbirne, zum Beispiel eine mit 100 Watt, und suchen Sie sich einen geeigneten Ort mit einem Betonboden. Nehmen Sie die Röhre in die linke Hand und die Glühbirne in die rechte. Sie werden bemerken, dass die Röhre wegen ihrer Zylinderform wesentlich besser in der Hand liegt. Halten Sie nun beide in einer Höhe von etwa einem Meter über den Betonboden, schließen Sie die Augen und halten Sie einen Moment inne. Und dann lassen Sie die Glühlampe fallen.

Dieses Experiment wird Ihnen helfen zu verstehen, welche Gefühle die Jungen leiteten, als sie wiederholt Röhren zerwarfen. Wenn Sie alles richtig gemacht haben, ist nun die Glühlampe kaputt, aber die Röhre ist noch in Ordnung. Stellen Sie sie am besten in eine Glasvitrine, denn ein Hauch von Geschichte umweht sie. Außerdem könnte es Ihre letze Chance sein, eines Tages Ihren Enkelkindern anschaulich zu erklären, was Elektronik ist. Übrigens kann die Röhre auch nach Jahrzehnten wieder in Betrieb genommen werden. Vielleicht findet sich ja mal die passende Aufgabe.

Um den Ärger zu beenden, baute er eine spezielle Falle. Er umwickelte einen Elektrolytkondensator aus einem Radio mit Papier und brachte spiralförmig zwei blanke Drähte auf, die er mit den Polen verband. Der Kondensator sollte aufgeladen und so hingelegt werden, dass niemand anders konnte als ihn zu ergreifen. Der Eindringling würde dann einen heftigen elektrischen Schlag erhalten und nie wieder Röhren zerstören. Die Aufzeichnungen des Ingenieurs belegen eine lange Versuchsreiche, die klären sollte, mit welcher Selbstentladungsrate man rechnen musste. Außerdem gab es umfangreiche Berechnungen, die dazu dienten, die maximal zulässige und nicht zu gefährliche Ladespannung zu bestimmen. Das Ergebnis war, dass ein Kondensator mit 100 Mikrofarad abends um zehn Uhr auf 200 Volt aufgeladen werden durfte. Bei Ankunft der Untäter gegen 12 Uhr wären noch 180 Volt vorhanden, was der errechnete erlaubte Grenzwert war. Ich habe die Sache nachgerechnet und stimme mit den Ergebnissen überein. Allerdings gab es drei Punkte, die mich von Anfang an nachdenklich stimmten. Drahtlos ging davon aus, dass der Täter nur mit einer Hand zugreifen würde, mit zwei Händen konnte es dagegen gefährlich werden. Außerdem bezog er die üblichen Kapazitätstoleranzen von bis zu plus 50 Prozent nicht mit ein. Und schließlich fand ich es gewagt, die Ankunftszeit vorherzusagen.
Schon um 11 Uhr wurde Drahtlos durch einen Schrei geweckt, der ihn veranlasste, aus dem Bett zu springen und in den Schuppen zu rennen. Dort fand er einen etwa 17-jährigen Jungen, der sich vor Schmerz nicht rühren konnte, und zwei weitere, die sich um ihn bemühten. Er holte alle zu sich ins Haus und schloss eine Art Friedensvertrag mit ihnen.

Alte Röhren
Soll niemand zerstören!

Man könne immer was daraus bauen. Zum Beispiel was, fragten sie. Zum Beispiel einen Gitarrenverstärker. Bei diesem Stichwort bekamen die jungen Leute leuchtende Augen. Sie wurden dann seine besten Freunde, was ihm viel Arbeit bescherte.
Am nächsten Tag schon wurde mit dem Verstärker begonnen. Er durfte nichts kosten, und Drahtlos war es seiner Erfinderehre schuldig, nur gebrauchte Teile einzusetzen. Da einige alte Fernseher zur Hand waren, wurden zwei Zeilenendröhren PL504 in Gegentaktschaltung verwendet. Statt eines echten Gegentakt-Trafos nahmen sie zwei alte Klingeltrafos, die sekundär parallel geschaltet waren. Das Netzteil kam ohne Trafo aus und arbeitete direkt am Lichtnetz, wobei zur Vermeidung von Gefahren das Chassis direkt mit dem Erdleiter verbunden war, eine Technik, die man aus Sicherheitsgründen eher ablehnen muss und die heute wegen der üblichen Fehlerstromschalter nicht mehr funktionieren würde. Der Stecker musste in einer bestimmten Richtung eingesteckt werden, damit das Gerät angeschaltet werden konnte. Die Anodenspannung wurde mit zwei Gleichrichterröhren PY81 und insgesamt vier Elkos auf über 500 Volt gebracht. Alle Daten weisen darauf hin, dass die Röhren erheblich überlastet wurden. Drahtlos verzeichnet daher auch in seinen Notizen ein dunkelrotes Glühen der Anoden bereits im Leerlauf. Nach seiner Schätzung war eine Lebensdauer von 50 Stunden zu erwarten. Das ganze Gerät wurde in einen kleinen Lederkoffer eingebaut, der zur besseren Kühlung bei Betrieb des Verstärkers zu öffnen war. Der Bau hatte nur einen Tag gedauert.

Am Abend wurde der Verstärker im Garten des Ingenieurs eingeweiht. Es erschienen noch mehr junge Leute, die teilweise nur wenige Jahre jünger waren als er selbst. Dabei stellte sich heraus, dass sie schon musikalische Vorerfahrungen hatten. Es gab eine E-Gitarre, Trompete, Trommeln und ein Sängerin, die Nelli hieß. Bald gingen auch Wein- und Bierflaschen herum, und der Garten wurde immer voller. Ein Lagerfeuer trug mit zur guten Stimmung bei. Drahtlos beschreibt die Musik der Gruppe mit emotionalen Worten, die ihm sonst eher fremd waren. Er schreibt, er habe sich völlig losgelöst von allen Alltagssorgen gefühlt. Die Musik sei so schön gewesen, wie er es noch nie gehört habe. Die Röhren-Anoden hätten fast hellrot geglüht, aber die Musik der Gruppe sei es allemal wert gewesen, eine erhebliche Verkürzung der Lebensdauer des Verstärkers in Kauf zu nehmen. Der Abend endete in einem Zustand der Zeitlosigkeit, zwischen Schwerelosigkeit und Alkohol-Schwere. Niemand ging nach Hause.
Am nächsten Morgen wachte Drahtlos beim Morgennebel auf der Wiese in seinem Garten auf. Überall lagen leere Flaschen und junge Leute. Zwei sah er hinter den Himbeerbüschen, die hatten sich eine Decke aus seinem Haus geholt. Auf seinem Bein lag der Kopf der Sängerin, die noch schlief. Drahtlos bekam einen Schreck und dachte an die Eltern der Jugendlichen. Dann aber sah er den Verstärker, der nur noch aus einem Häuflein Asche und einigen verkohlten Resten bestand. Die Kabel waren noch eingesteckt. Der Gitarrist lag auf dem Rücken, die Gitarre in der Hand. Drahtlos sprang hoch und humpelte mit eingeschlafenem Bein zu dem Jungen, um mit Wiederbelebungsversuchen zu beginnen. Der allerdings machte die Augen auf und murmelte mit seligem Blick: "Wir haben gerockt bis die Funken flogen."
Das Fest im Garten erwies sich als Gründungsakt einer lokal sehr bekannten Band, die sich "Die Heißen Röhren" nannte. Drahtlos musste sie mit Verstärkern versorgen, wobei das besondere Merkmal der Gruppe war, dass bei jedem großen Auftritt ein Verstärker in Flammen aufging.


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