Start Vorwort Inhalt Neues Leserbriefe

(c) P.Copper, Drahtlos

weiter


5.2 Drahtlose Entwicklungen

Gleich im Nachbardorf hielt ich an, denn es erschien mir klug, noch einmal die Radmuttern zu kontrollieren. Ich wollte auf keinen Fall das verspätete Opfer irgendwelcher kreativer Reparaturmethoden werden. Es war aber alles in Ordnung. Als ich gerade den Schraubenschlüssel wieder einpacken wollte, kam eine Frau mit einem Kinderwagen vorbei. Ein ungewohntes Geräusch fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich bemerkte einen elektrischen Hilfsmotor und einen Satz Nickel-Kadmium-Akkus am Fahrgestell. Außerdem gab es zwei Halogenscheinwerfer und ein Armaturenbrett mit mehreren Schaltern, Reglern und Anzeigen. Das Baby und die Frau waren aber ganz normal und fröhlich. Als ich merkte, dass ich sie angestarrt haben musste, war es mir sehr peinlich. Das Bild hatte sich derart in meine Netzhaut eingebrannt, dass ich es noch längere Zeit eingehend betrachten konnte, als die Frau schon außer Sichtweite war. Anscheinend verfügte das Gefährt auch über eine Anlage zur Bremsenergie-Rückgewinnung und eine Wirbelstrombremse zur automatischen Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit. Ich glaubte auch eine zentrale Steuereinheit mit einer großen Platine erkannt zu haben. Dann verschwamm alles, und ich fühlte mich etwas schwindelig. Ob es vielleicht nur daran lag, dass ich mich nach dem Kontrollieren der Radmuttern zu schnell aufgerichtet hatte? Dabei kann einem leicht der Blutdruck etwas außer Kontrolle geraten. "Ist Ihnen nicht gut?" Ein Polizist weckte mich aus meinen Überlegungen. "Geht schon wieder." sagte ich, entschloss mich dann aber zu einer Frage: "Gibt es eigentlich hier am Ort Kinderwagen mit Elektromotor?" "Oh, da müssen Sie gerade meine Frau getroffen haben. Tut mir leid, wenn Sie sich erschrocken haben. Wissen Sie, das ist nur so ein Hobby von mir. Feilen, Löten und Schrauben nutzt mehr als manche glauben." Ich war beruhigt, denn damit war klar, dass meine Sinne noch funktionierten. Wir unterhielten uns noch ein wenig über technische Daten und Konzepte. Ob nicht auch ein Risiko in diesem Hobby stecke, fragte ich ihn. Eigentlich nicht, meinte er, am Anfang sei der Wagen zwar ein paar mal von allein angefahren, aber seit er die neue Steuerplatine mit einem 8051-Prozessor eingebaut habe, sei alles völlig sicher.

In der folgenden Nacht schlief ich nicht gut. Ich träumte von einer Seilbahn, mit der ich talwärts fuhr. Unten auf dem Waldboden sah ich viele Pilze. Sie verwandelten sich jedoch allmählich in Verstärkerröhren, die immer heller glühten. An mehreren Stellen gleichzeitig entwickelten sich Brandherde, so dass ich schließlich über dem brennenden Wald schwebte. Zugleich wurde die Seilbahn immer schneller, bis der Fahrtwind die Scheiben zerschmetterte. Verzweifelt klammerte ich mich an die Haltegriffe. Die Drahtseile über mir glühten hellrot. Plötzlich konnte ich die Talstation erkennen, aus der grelle Blitze zuckten. Mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit schoss ich auf das Inferno zu. Wenige Meter vor dem unvermeidlichen Aufprall wachte ich schweißgebadet auf. Ich musste kalt duschen, konnte aber die ganze Nacht kein Auge mehr zutun.
In einem begrenzten Gebiet im Odenwald machte ich später eine Entdeckung. Dort hatte das Wort "drahtlos" als Adjektiv bzw. als Adverb eine völlig eigene Bedeutung angenommen. Ich hörte es zum ersten mal, als zwei Jungs beinahe mit ihren Fahrrädern zusammengestoßen wären. "Was fährst du heute wieder so drahtlos!" rief der eine. Mir war die genaue Bedeutung des Wortes zunächst nicht klar. Später, als ich in einem kleinen Radiogeschäft ein paar Batterien kaufen wollte, hörte ich aus dem hinteren Raum, wo ich die Werkstatt vermutete, jemand laut schimpfen: "Ich möchte wissen, wer von euch Holzköpfen hier so drahtlos rumgelötet hat!" Am selben Tag kam ich zufällig vorbei, als ein junger Mann seinem Vater stolz den frisierten Motor seines alten Autos erläuterte. Mir fielen vier riesige Vergaser mit offenen Ansaugstutzen auf. Der Vater aber meinte: "Ich würde diesen Umbau eher als drahtlos bezeichnen." So langsam wurde mir die Bedeutung des Adjektivs "drahtlos" klar. Man könnte es etwa mit "unüberlegt" übersetzen, keineswegs aber mit "dumm". Vielmehr geht es jedesmal darum, dass etwas zwar mit Geschick und Können ausgeführt wird, aber nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Ich wollte es nun auch einmal probieren. Ich ging daher zu einer Autowerkstatt und fragte, ob man etwas gegen meinen klappernden Auspuff tun könne. Nach meiner Meinung wäre die gesamte Aufhängung extrem drahtlos konstruiert. Der Mechaniker war ganz meiner Meinung. Die drahtloseste Entscheidung seit der Produktionseinstellung des Opel Blitz sei es gewesen, den Katalysator einfach in das alte Chassis einzubauen, obwohl eigentlich der Platz gar nicht reicht. Er habe schon oft versucht, die Sache mit etwas Draht zu bereinigen. Aber die ganze Rappelei sei so groß, da ginge nach spätestens 1000 km auch der stärkste Draht los.
Sehr viel später habe ich das Wort übrigens noch einmal bei der Fernsehübertragung einer Bundestagsdebatte zum Haushaltsentwurf der Regierung gehört. Ein Abgeordneter aus den hinteren Reihen, der wohl aus jener Gegend stammte, rief entrüstet ins Mikrofon: "Die Haushaltspläne der Regierung kann ich einfach nur drahtlos nennen!" Einige der Abgeordneten sahen kurz auf, verfielen dann aber schnell wieder in ihren üblichen Schlaf. Auch aus den Regierungsbänken kam kein Protest, woraus ich schließen konnte, dass niemand den Vorwurf verstanden hatte. Später wurde der selbe Abgeordnete noch von einem Reporter befragt, der glaubte, einen völlig neuen und sehr interessanten Ansatz zur möglichen Lösung der Haushaltsmisere in der Forcierung der drahtlosen Kommunikationstechnologien herausgehört zu haben. Beide redeten noch einige Zeit aneinander vorbei und gaben dann auf.


zurück
weiter