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(c) P.Copper, Drahtlos

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6. Nelli

6.1 Erinnerungen

Nach den teilweise ermutigenden Erfahrungen mit alten Bekannten von Drahtlos entschloss ich mich, auch nach der Sängerin der Heißen Röhren zu suchen. Es war nicht ganz einfach. In den Aufzeichnungen fanden sich fast nie vollständige Namen. Einmal hatte sie zwar mit vollem Namen ein Messprotokoll unterzeichnet, doch der Nachname war sehr undeutlich geschrieben. Ich suchte in einem Telefonbuch des Ortes und stelle fest, dass es dort nur eine Familie gab, die in Frage kam. Wegen der alten Drahtlos-Geschichte konnte ich dort nicht nachfragen, so dass die Suche sehr schwierig wurde. Aber nach zwei anstrengenden Wochen hatte ich sie am Telefon. Sie hatte eine so schöne Stimme, dass ich mir gut vorstellen konnte, wie sie damals gesungen hat. Und sie freute sich sehr, mit mir über Drahtlos zu reden. Ich solle sie doch einmal in München besuchen kommen.

Als sie mir die Tür öffnete, war ich überrascht. Ich sah eine auffallend große, kräftige und sehr sympathische Frau. Das sollte die Sängerin der Heißen Röhren gewesen sein? Sie bat mich herein und wir setzten uns in ihr Wohnzimmer. Dann erzählte sie mir, dass sie Drahtlos nach seiner überstürzten Flucht aus den Augen verloren habe. Sie habe dann selbst Ingenieurwissenschaften studiert, auf diese Idee sei sie überhaupt erst in der Werkstatt des Ingenieurs gekommen, damals, als sie an den Verstärkern der Band gearbeitet habe. Später habe sie dann immer gehofft, Drahtlos noch einmal zu begegnen.
Ich erzählte ihr vieles, was ich aus den Notizbüchern wusste. Wir verglichen Orte und Zeiten und stellten fest, dass sie sich einmal fast getroffen hätten. Sie hatte mal ein Praktikum in der Kernbrennstäbefabrik in Hanau gemacht. Nur kurze Zeit später hatte Drahtlos dort angefangen. Das war ein Jahr bevor die Anlage geschlossen wurde. "Dann hat also Didi in einem halben Jahr geschafft, wofür drei Bürgerinitiativen zehn Jahre gekämpft haben," sagte sie. Sie verfügte über vertrauliche Informationen von ehemaligen Kollegen aus Hanau. Die Vorgänge, die zur Schließung des Werks geführt hatten, waren in der Tat so brisant, dass sie mit gutem Grund geheim blieben. Die Betreiberfirma muss Milliarden ausgegeben haben, um alles wieder sauber abzubauen. Ich kann hier wie gesagt keine Details nennen. Aber das Ganze trug überdeutlich die Handschrift des Ingenieurs Dietrich Drahtlos. Es ist wirklich erschreckend, wie die Großindustrie mit unserer Sicherheit spielt. Wie ist es nur möglich, dass ein einzelner Mann solche Katastrophen vollbringen kann! Wir können alle nur froh sein, dass seine Bewerbung beim Atomkraftwerk Biblis damals nicht angenommen wurde.
Wir unterhielten uns noch über viele Dinge. Sie öffnete eine Flasche Wein, und es wurde sehr gemütlich. Ich wagte dann die Bemerkung, dass der Ingenieur wohl große Stücke auf sie gehalten habe, da sie die einzige sei, die jemals außer ihm in die schwarzen Kladden schreiben durfte. Da schaute sie mit glasigen Augen ins Leere und seufzte tief. "Der Didi war ja so süß! Die kleine runde Brille, die Haare immer zerzaust. Er stand immer einen halben Meter neben sich, war nie ganz da. Irgendwie war er so hilflos, einfach zum Knutschen süß! Aber mich hat er gar nicht richtig gesehen. Was anderes als seinen Oszillographenschirm hat er ja auch nie ganz genau angeschaut. Vielleicht hätte ich ihn mir damals einfach schnappen sollen. Aber wer hätte denn ahnen können, dass sowas wie mit der Apfelerntemaschine passieren würde und dass er dann so schnell weg musste. Danach war er in der ganzen Gegend praktisch eine Unperson. Sogar das Wort "Draht" durfte nicht mehr ausgesprochen werden. Man musste zum Beispiel "Kabel" sagen. Schwierig war es mit Maschendraht (Kaninchengitter), Blumendraht (Metallschnur) und Verdrahtung (Leitende Bauelementeverbindung). Ein falsches Wort reichte, um eine schwere Nervenkrise bei einem der betroffenen Bauern auszulösen. Aber dass sie sogar das ganze Haus von Didi abfackeln würden, hätte ich nie gedacht. Da hatte sich wohl einiges aufgestaut. Wir haben damals mit den Heißen Röhren vielleicht mehr in Frage gestellt als nur den herrschenden Musikgeschmack. Manch ein Papa fürchtete wohl um seine Autorität. Die alten Säcke dachten vielleicht, ein Feuerchen reicht, und alles läuft wieder so wie früher. Ich glaube, Didi hat das alles gar nicht so genau mitgekriegt. Er war ja auch nie mit auf unseren Konzerten, außer damals in seinem Garten beim Gründungskonzert der Heißen Röhren. Für Didi war das alles nur ein Problem der richtigen Anodenspannung. Ich hätte ihm eine Menge erklären können. Schade, alles zu spät." Ich sah eine kleine Träne in ihren Rotwein fallen.
Wir sprachen noch eine Weile über dies und das. Sie arbeitete jetzt in einer Fabrik für Haushaltsgeräte und sprach mit deutlicher Verachtung von ihrem Tätigkeitsfeld: Akustische Messungen und Klanganalysen an Küchengeräten. Es ging um Motorengeräusche, parasitäre Resonanzen und andere scheppernde Geräusche. "Wenn Sie die Tür eines Kühlschranks zuschlagen, dann klingt das entweder nach Billigschrott, oder Sie bekommen einen ganz ehrfürchtigen Eindruck vom Wert des Geräts. Unsere Geräte sind zwar auch Schrott, aber das hört keiner. Das ist wie bei unseren Verstärkern damals, alles nur Schau. Hätten Sie gedacht, dass zwanzig Prozent der Entwicklungskosten in die Akustik fließen? Gehen Sie mal in ein Kaufhaus, und öffnen Sie ein paar Kühlschränke. Danach werden Sie den unerklärlichen Wunsch verspüren, einen Kühlschrank von uns zu kaufen. Jedenfalls sind die Umsätze in der letzten Zeit explodiert. Aber glauben Sie nicht, dass mal ne Gehaltserhöhung drin wäre. Nicht mal die Überstunden werden bezahlt. Die Ingenieure sind doch letztlich immer nur die Sklaven."


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