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(c) P.Copper, Drahtlos

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4.5 Ein geglückes Experiment?

Zweite Theorie: Das Experiment ist geglückt.

Leider kann ich nicht einmal genau sagen, um welches Experiment es sich gehandelt hat. Es gab ja nur unzureichende Hinweise auf irgendeinen Flug, der möglicherweise von der Burg über dem Baldeneysee gestartet werden sollte. Aber ich will im Interesse der Wahrheitsfindung einmal meine übliche Zurückhaltung ablegen und versuchen, die fehlenden Bausteine zusammenzutragen.

Die Frage, ob das Experiment den Ingenieur selbst beinhaltete, möchte ich trotz einiger Bedenken einmal mit ja beantworten. Das hieße, die Zeichnung, auf der er mit einem seltsamen Vehikel eine Feldlinie erklimmt, wäre kein Scherz gewesen, sondern ernst gemeint. Dies würde bedeuten, dass er noch weitere Fortschritte in seinen Forschungen erzielt haben muss, von denen nichts in der letzten Kladde steht. Möglicherweise gab es eine sechste Kladde, in der es nur um die letzten Forschungen ging. Das ist aus zwei Gründen nicht unwahrscheinlich. Erstens fehlen am Ende der fünften Kladde Informationen, die zum Verständnis des Ganzen wichtig gewesen wären. Dies aber war nicht die übliche Art des Ingenieurs. Fast immer ließ sich einwandfrei nachvollziehen, woran und mit welchen Methoden er gearbeitet hat. Das zweite Argument ist der abschließende Satz in der fünften Kladde. Es kann sich hier um die Beendigung eines großen Kapitels oder Lebensabschnitts gehandelt haben. Man kann sich vorstellen, dass Drahtlos alle seine bisherigen Arbeiten als typisch für einen Ingenieur angesehen hat, sie also deshalb mit seinem Wahlspruch einrahmte. Die nun kommenden Forschungen dagegen gehörten in eine andere Kategorie.
Also wäre Drahtlos tatsächlich mit Hilfe eines Supraleiters geflogen. Wohin, das kann man nur vermuten. Wenn er tatsächlich genau dem Verlauf der Feldlinie gefolgt ist, muss er irgendwo im Ozean südlich von Kapstadt gelandet sein. Das ist aber eher unwahrscheinlich, denn diese Bahn hätte ihn weit durch den Weltraum geführt. Dazu hätte er ein sehr viel größeres Fahrzeug mit den nötigen Lebenserhaltungsystemen gebraucht. Offen bleibt auch die Frage, mit welcher Energie er geflogen ist. Trotz intensiver Suche konnte ich keinen einzigen Hinweis in seinen Notizen finden. Allerdings machte ich am möglichen Abflugort selbst einmal eine seltsame Entdeckung.
Als ich an einem Sonntag nur so zur Erholung im Wald nahe der Isenburg spazieren ging, bemerkte ich ein altes Fahrrad in einem Gebüsch dicht unterhalb der Burgmauer. Es war kaum zu sehen, weil das Gebüsch es fast verdeckte. Zuerst dachte ich nur, was für eine Umweltverschmutzung, da hat jemand sein altes Fahrrad mitten im Wald weggeworfen! Als ich die Zweige etwas beiseite schob, sah ich, dass die Reifen fast völlig verbrannt waren. Ich ging daher davon aus, dass einige Jugendliche hier ein Lagerfeuer veranstaltet hatten, was natürlich im Wald streng verboten ist. Für das Feuer sprach auch, dass einige Flaschen und Dosen herumlagen. Eine der Dosen hing jedoch auf eine Art am Rahmen des Fahrrads, die mich stutzig machte. Ich konnte nicht erkennen, was sie festhielt. Ich arbeitete mich noch weiter durch das Gebüsch und stellte dann folgendes fest: Das gesamte Fahrrad war in einem Maße magnetisiert, wie es eigentlich nur durch ein gezieltes Vorgehen mit großem technischen Aufwand möglich ist. Es kommt zwar schon mal vor, dass Gegenstände aus Stahl, wie zum Beispiel ein Schraubendreher, schwache Magneten werden, sie erreichen aber niemals von allein die Kraft, die zum Beispiel ein Ferritmagnet in einem Lautsprecher aufweist. Das Fahrrad jedoch war noch wesentlich stärker magnetisiert. Ich versuchte, die Dose mit dem Fuß wegzutreten. Es gelang mir zwar, aber sie sprang selbst aus einer Entfernung von 20 Zentimetern immer wieder an den Rahmen zurück.
Drei oder vier andere Wanderer hatten sich in der Zwischenzeit um meinen Busch versammelt und sahen mir interessiert zu. Leider muss ich an dieser Stelle gestehen, dass ich mich geschämt habe, ich wollte auch nicht erklären, was ich als erwachsener Mann so interessant an einem alten, verrosteten Fahrrad fand. Hätte ich nur den Mut gehabt, den ganzen Schrott auf die Schulter zu nehmen und nach Hause zu tragen! Denn nur eine Woche später war die Stelle völlig gesäubert. Vielleicht haben einige Pfadfinder den Wald aufgeräumt. Später ist mir eingefallen, dass eigentlich nur ein Blitz diese starke Magnetisierung verursacht haben kann. Ich fand dann auch heraus, dass es in jener Nacht tatsächlich ein Gewitter gegeben hatte, allerdings nicht um 11.30 Uhr, sondern erst um 11.45 Uhr. Ein Blitzschlag könnte auch die verbrannten Reifen erklären.
Das Ganze ist für mich ein schwacher Hinweis darauf, dass die fehlende Energiequelle ein Blitz war. Ich verglich die wenigen Energieberechnungen zum geplanten Flug mit den Berechnungen, die bei den Blitzversuchen im Schwarzwald angestellt worden waren. Das Ergebnis war verblüffend. Die für den Flug benötigte Energie schien genau der Energie zu entsprechen, die Drahtlos als Gesamtenergie eines durchschnittlichen Blitzes bestimmt hatte. Ich möchte nicht gerade behaupten, dass es sich hier um eine lückenlose Beweiskette handelt, aber es ist zumindest nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Energie für den Magnetflug aus einem Blitz stammte. Welche Rolle allerdings das Fahrrad dabei gespielt hat, ist mir völlig unklar. Unklar bleibt natürlich auch, wie die Energie aufgefangen wurde und wie sich Drahtlos selbst gegen den Blitz schützen konnte. Zumindest aber hatte er auf diesem Gebiet einige Erfahrungen.
Ich fasse erneut zusammen: Drahtlos wäre nach dieser Theorie mit einem unbekannten Fahrzeug durch die Luft entschwunden, wobei wahrscheinlich ein Blitz für die nötige Energie gesorgt hat.
Was mich an dieser Theorie am meisten gestört hat, ist ein unerklärlicher Zufall. Warum war genau einen Tag vor seinem Versuch ein solch schwerer Unfall an seiner Arbeitsstätte passiert. Der Tag des Versuchs war ja schon lange festgelegt. Sollte etwa ein Zusammenhang zwischen beidem bestehen? Zum ersten Mal kam mir ein fürchterlicher Verdacht. Waren die Supraleiter etwa bei Widia gesintert worden? Hatte Drahtlos vorsätzlich eigene Versuche an den Öfen von Krupp durchgeführt? War am Ende gar der Unfall eine direkte Folge der abschließenden Produktion seiner Supraleiter? Ich muss leider sagen, dass ich diesen Verdacht nicht mehr los wurde, obwohl man diese Machenschaften eindeutig als kriminell einstufen müsste. Es würde natürlich auch erklären, warum Drahtlos sich nicht gerade ausführlich zu dem Unfall äußerte. Allerdings glaube ich beim besten Willen nicht, dass er die Explosion billigend in Kauf genommen hat. Vielmehr muss es in diesem Fall zu einem unvorhergesehenen Problem gekommen sein, so dass der Unfall als das typische und schon oft beobachtete Pech des Ingenieurs angesehen werden kann. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Drahtlos als erwiesener Menschenfreund einen Unfall dieser Größenordnung billigend in Kauf genommen hat.


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