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(c) P.Copper, Drahtlos

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5.3 Im Blitzdorf

Auf einer meiner Reisen besuchte ich auch jenes Dorf, in dem die Blitzversuche stattgefunden hatten und das ich aus den bekannten Gründen hier nicht nennen kann. Dort war mir zwar in einer Gastwirtschaft wie gesagt das Wort "blitzschnell" beinahe zum Verhängnis geworden, die Gäste merkten aber bald, dass ich nur von meiner letzten Reiseetappe gesprochen hatte. Ich vermied weiterhin jede Anspielung auf Drahtlos, denn die erste Reaktion hatte mir gereicht. Ich sah mich nur im Dorf um und machte ansonsten einfach Urlaub. Nach einigen Tagen jedoch siegte in mir die Neugier, und ich besuchte den Pfarrer. Es war ein alter, weißhaariger Herr von weit über 70 Jahren. Er fragte freundlich, was er für mich tun könne. Ich sagte, es gehe um einen gemeinsamen Bekannten, den Ingenieur Drahtlos. Ich konnte ein leichtes Erschrecken in seinem Gesicht erkennen. Er bat mich herein und schloss schnell die Tür. Unser Gespräch begann sehr schleppend, und ich hatte den Eindruck, dass er zuerst genau wissen wollte, wer ich bin und was ich wollte. Ich erzählte ihm ausführlich von den gefundenen Aufzeichnungen und dass der Ingenieur verschollen ist. Nach einer Stunde taute der Pfarrer auf und begann selbst zu erzählen. Eine Flasche Wein wurde geöffnet, und wir machten es uns gemütlich. Der alte Priester wurde immer offener, je leerer die Flasche wurde. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm gut tat, über die vergangenen Ereignisse zu sprechen.

"Sie können sich nicht vorstellen, was hier los war. In den schlimmsten Monaten, als hier jede Woche bis zu 20 Blitze einschlugen, hatte ich alle Hände voll zu tun, noch schlimmere Ereignisse zu verhindern. Das ganze Dorf war in einer Art Endzeitstimmung. Alte Instinkte wurden wach und riefen nach Gewalt. Damals kamen mindestens fünf der angesehensten Einwohner heimlich zu mir und wollten die gute alte Tradition des Scheiterhaufens wieder aufleben lassen. Ich als Mann der Kirche müsse doch die Methoden der Inquisition noch kennen. Und außerdem, wer sonst als die Kirche könne noch offen den Kampf gegen die bösen Mächte aufnehmen. Ich rief zur Mäßigung auf und versprach, mich um eine friedliche Lösung des Problems zu bemühen. Meinen ganzen Einfluss setzte ich in den Sonntagspredigten und im Religionsunterricht ein, um die Leute zur Vernunft zu bringen. Dabei waren meine Nerven auch schon am Ende. Immer dieses Krachen! Wenn eine Wolke am Himmel erschien, wollte man sich gleich verkriechen.
Natürlich habe ich damals auch mit dem Ingenieur gesprochen. Aber so was von Starrsinn habe ich nie vorher und nie nachher erlebt. Ich bat ihn dringend um Rücksicht auf Mensch und Natur. Da meinte er nur, als Gott der Herr dem Menschen befohlen habe, er solle sich die Erde untertan machen, da habe er selbstverständlich auch die Blitze gemeint. Und er, Drahtlos, sei jetzt dabei, den Willen des Herrn zu erfüllen. In wenigen Jahren würde jeder zivilisierte Mensch sich daran gewöhnt haben, dass Blitze in die dafür aufgestellten Kollektoren einschlagen. Der Blitz als solcher hätte dann seinen Schrecken verloren, und bald würde niemand mehr beim Klang des Donners auch nur mit der Wimper zucken. Dabei glaube ich nicht einmal, dass er religiös war, jedenfalls habe ich ihn nie in der Kirche gesehen. Er wollte einfach nur weitermachen mit seinen Versuchen. Ob er seine Anlage nicht wenigstens auf den Feldberg verlegen könne, fragte ich. Daran hätte er auch schon gedacht, aber da gäbe es bereits Sendeanlagen des Rundfunks und der Post sowie eine Empfangsanlage der US-Army. Die könnten sich durch Induktionsströme in der Umgebung seiner Anlage gestört fühlen. Ob nicht die Induktionsströme in unseren Nerven auch ein Argument seien. Einen Moment, sagte er, nahm sein schwarzes Notizbuch und rechnete irgendwas herum. Kein Problem, meinte er dann, bei einem Mindestabstand von sieben Metern vom Hauptblitzkanal seien keine nachteiligen Wirkungen zu befürchten. Wenn ich nach solchen nutzlosen Versuchen das Haus des Ingenieurs verließ, sahen mich natürlich die Leute. Am nächsten Tag schlugen dann wieder die nächsten Blitze ein. Es gab damals böse Gerüchte, ich stecke mit dem Ingenieur unter einer Decke, das ganze wäre nur ein Trick der Kirche, um Angst zu verbreiten und auf diese Weise wieder mehr Leute in die Gottesdienste zu bekommen. Jedenfalls wurde das Vertrauen in den Pfarrer empfindlich erschüttert. Ich spürte das noch drei Jahre, nachdem der ganze Spuk vorbei war. Dabei war ich damals die einzige Stimme der Vernunft in diesem Ort. Ohne mich hätte es Mord und Totschlag gegeben.
Der Ingenieur war insgesamt drei Jahre bei uns, und er war eigentlich immer sehr beliebt. Die Blitzversuche haben ja nur ein halbes Jahr gedauert, seltsam dass es einem im nachhinein wie zehn Jahre vorkommt. In den ersten Jahren war alles in Ordnung. Der Ingenieur bastelte friedlich irgendwelches Zeug, das niemand verstand. Alle brachten ihre kaputten Geräte zu ihm und waren sehr zufrieden mit seiner Arbeit. Ich selbst habe auch einmal meinen alten Fernseher zu ihm gebracht. Der lief danach besser als je zuvor. Nur dass manchmal noch irgendwelche Stimmen zu hören waren, vielleicht Funkamateure oder sowas. Zufällig entdeckte ich dann auf einigen leeren Kanälen auch ganz bekannte Stimmen. Die Jugendlichen des Dorfs gingen bei Drahtlos ein und aus. Sie hatten sich wohl mit seiner Hilfe vollständig mit kleinen Schwarzsendern ausgerüstet. Es herrschte sogar eine gewisse Disziplin im Äther. Es gab einen Kanal für Jungen, einen Mädchenkanal, und einen für alle, den sie sinnigerweise den 'Kuppelkanal' nannten. Ich sage Ihnen, die drahtlose Kommunikation hatte damals hier schon einen Stand erreicht wie erst Jahrzehnte später wieder, wo heute in jedem Gottesdienst mindestens drei von diesen Scheiß-Handys klingeln. Entschuldigung, Sie sind nicht von hier, da können ein paar offene Worte nicht schaden. Damals jedenfalls war ich streckenweise recht gut über alle geplanten Untaten der Dorfjugend informiert. In drei oder vier Fällen konnte ich sogar wirklich schlimme Dinge verhindern, ohne mein, sagen wir mal 'erweitertes Beichtgeheimnis' zu verletzen. Ich weiß übrigens bis heute nicht, ob die Umrüstung meines Fernsehers zum Sprechfunkempfänger Absicht, Irrtum oder eine Verwechslung war. Vielleicht hat einer der Jugendlichen selbst routinemäßig eine kleine Änderung vorgenommen, ohne zu merken, dass es mein Apparat war. Der ganze Spaß war jedenfalls nach einem Jahr vorbei, als ein Funkmesswagen der Post auftauchte und einen Tag lang durch das Dorf fuhr. Am Abend gab es eine Krisensitzung beim Bürgermeister, zu der ich auch eingeladen wurde. Die Herren von der Post sagten, sie hätten 16 Schwarzsender festgestellt, ich wusste, es waren 24. Jetzt könnten sie das übliche Programm mit Polizei, Hausdurchsuchung und so weiter durchführen, oder aber man einigte sich auf eine vereinfachte Kooperation, das heißt sie kämen nach einer Woche wieder und nähmen alle Sender ganz ohne Absender mit. Ich wurde als Vermittler ausgewählt. Am nächsten Morgen trommelte ich alle Betroffenen zusammen und erläuterte die Lage. Fast alle waren sofort einverstanden. Nur ein Knabe wollte nicht mitspielen. Wie ich denn auf ihn käme, wo er doch die ganze Woche gar nicht im Dorf war, ob mir das wohl der Heilige Geist geflüstert habe. Nein, sagte ich, aber der Herr hat mir seinen Engel gesandt. Der erzählte noch viel mehr, ich sage nur, 229,75 Megahertz, Tonträger Kanal 12, der Kuppelkanal. Da war der kleine Aufstand zu Ende. Ich konnte dann 24 Geräte an die Herren vom Funkmessdienst übergeben. Sie waren übrigens hellauf begeistert über die technische Qualität der Sender. Einige Details wären so genial gelöst, dass man eigentlich an eine Serienproduktion denken müsse, wenn auch allerdings nur auf einer legalen Frequenz. Ich sagte, mancher Prototyp steht, der nicht in Serie geht. Da wurden sie auf einmal misstrauisch und fragten, ob ich die Geräte etwa gebaut hätte. Ich sagte, Gott bewahre, ich als Mann der Kirche habe überhaupt keine Erfahrung mit solchen weltlichen Dingen. Einer wollte noch weiter nachfragen, ließ es aber dann doch. Die Sache zeigt mal wieder, dass man lieber schweigen als zu viel reden soll. Es hätte schlimm ausgehen können, denn mit sehr viel bösem Willen hätte man mich der Mitwisserschaft bezichtigen können. Sie wissen ja, wie solche Schmutzkampagnen gegen die Kirche immer ausgehen. Sie dürfen aber jetzt nicht denken, dass ich besonders geschwätzig bin und dass mir deshalb das mit dem Prototyp rausgerutscht wäre. Es war nur so, dass der Ingenieur mit seinen Sprüchen in aller Munde war. Die Sache hatte eine Eigendynamik entwickelt, gegen die sich niemand mehr wehren konnte. War zum Beispiel von irgendeiner erfolgreichen Reparatur die Rede, dann kam mit absoluter Sicherheit der Spruch: Des Ingenieurs Devise, schnell und präzise. Wenn in der Schule eine Aufgabe falsch gelöst wurde, hieß es: Der erste Versuch ist meist nicht genuch. Zuerst wehrten sich einige Lehrer noch wegen der naheliegenden falschen Rechtschreibung, aber dann gebrauchten sie ihn selbst. Sogar im Bürgermeisteramt fielen Sprüche wie: Manch großes Ziel erfordert nicht viel. Diese poetische Ader des Ingenieurs war übrigens ein großer Pluspunkt für ihn und hat über viele Jahre mit zur guten Stimmung im Dorf beigetragen. Wenn er nur mit den Blitzen nie angefangen hätte!
Die Monate der Blitzversuche waren wirklich die Hölle. Die ganze Stimmung im Dorf hatte apokalyptische Züge. Im Jahr danach wurden fünf Babys geboren, alle unehelich! Ich glaube, die Leute dachten in ihrer Angst, es sei sowieso schon alles zu spät. Die fünf Kinder sind übrigens alle getauft und wurden von kirchlich getrauten Eltern erzogen, dafür habe ich schon gesorgt, nachdem der Rauch sich gelegt hatte. Ich nenne sie heimlich immer die Drahtkinder, Sie verstehen, sozusagen die Boten neuer Hoffnung nach der Ära der Drahtlosigkeit.
Am Tage nach dem großen Brand gab es übrigens einen ganz erstaunlichen Umschwung in Richtung Sachlichkeit. Es gab eine Versammlung beim Bürgermeister, der Ingenieur war auch da. Er redete noch rum, die letzen beiden Blitze gingen nicht auf sein Konto, die Katastrophe wäre auch ohne ihn passiert. Aber das interessierte schon keinen mehr. Interessant war nur die Auskunft, dass Drahtlos über keinerlei Mittel verfügte, um den entstandenen Schaden zu bezahlen. Also war die ganze Sache ein Fall für die Feuerversicherung, und der Ingenieur musste schnell und unauffällig den Ort verlassen. Die meisten der abgebrannten Gebäude waren alt und baufällig. Die Bauern machten ein gutes Geschäft mit der Versicherung, was sie als kleinen Ausgleich für die erlittenen Nervenschäden ansahen. Seit der Zeit wurde im Dorf nie mehr über Drahtlos und seine Blitze gesprochen. Das ganze lastet noch immer auf den Leuten, auch wegen der etwas krummen Sache mit der Versicherung."
Der Pfarrer riet mir dringend keine weiteren Nachforschungen anzustellen und keine Fragen zu stellen. Wenn ich allerdings einen ganz unauffälligen Blick auf den Ort des Geschehens werfen wolle, dann sollte ich mal beim Bauern Soundso eine Kanne Milch kaufen. Die Kühe ständen auf einem Boden aus Glas, den Resten des alten Blitzspeichers. Am nächsten Morgen befolgte ich den Rat. Das Glas war im Laufe der Jahre rauh geschliffen, so dass es fast aussah wie ein Zementboden. In einer Ecke des Stalls aber schob ich mit den Füßen etwas Stroh zur Seite. Da kam völlig klares, grünliches Glas zum Vorschein. Etwa zehn Zentimeter unter der Oberfläche waren einige Drähte eingeschmolzen. "Was haben Sie da zu suchen!" erschreckte mich eine unfreundliche Stimme. Hinter mir stand der Bauer mit erhobener Mistgabel. "Mir ist gerade mein Markstück runtergefallen und hier irgendwo ins Stroh gerollt." "Sagen Sie das doch gleich! Einen Liter Milch bekommen Sie bei mir natürlich auch umsonst." Am selben Tag noch verließ ich das Dorf. Manchmal soll man alte Geschichten lieber ruhen lassen.


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