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Kurzgeschichte


Piet Copper

Flugangst

Flugangst kann schrecklich sein. Es gibt nicht wenige Menschen, die auf ferne Reiseziele verzichten, weil sie sich nicht einer dieser Teufelsmaschinen anvertrauen wollen, von denen man nicht weiß, ob sie auch sicher landen werden. Besonders hart trifft es technisch erfahrene Menschen, die sich unzählige mögliche Fehler anschaulich vorstellen können. Gerade unter Ingenieuren gibt es daher nicht wenige, die niemals ein Flugzeug betreten.

Im letzen Jahr musste ich einmal zu einem kurzen Arbeitsbesuch nach München fliegen. Ich war schon früh am Flughafen Düsseldorf angekommen und saß lange in der Wartehalle. Eine gewisse Aufregung ist für mich ganz normal, wenn ich fliege. Aber diesmal war es wesentlich schlimmer als sonst. Schuld daran war der Ingenieur Dietrich Drahtlos.
Genau zur angekündigten Zeit kam die Maschine aus München und rollte langsam an das Terminal. Doch anders als sonst üblich stiegen die Fluggäste nicht sofort aus. Statt dessen fuhr ein Werkstattwagen bis nahe an die Maschine heran. Einige Mechaniker stiegen aus, stellten eine Leiter am rechten Triebwerk auf und öffneten es. Die eine Hälfte der Verkleidung wurde dazu wie die Motorhaube bei meinem Wagen hochgeklappt und mit einer dünnen Stange fixiert. Das fängt ja gut an, dachte ich. Die Männer schienen etwas zu kontrollieren, schlossen dann die Haube aber wieder und begaben sich auf die andere Seite, wo sie ebenfalls das Triebwerk öffneten. Die Fluggäste aus München saßen immer noch gefangen in ihrer engen Kabine. In der Wartehalle kam nun eine Durchsage, dass mit einer kleinen Verzögerung zu rechnen sei. Ich wurde nervös. Der gesamte Zeitplan für diesen Tag schien in Gefahr.
Auf der linken Seite des Flugzeuges konnte ich leider nichts genaues erkennen, nur dass dort irgendwie gearbeitet wurde. Es kamen immer wieder neue Monteure, um sich die Sache anzusehen. Irgendwann mussten sie wohl zu dem Schluss gekommen sein, dass keine akute Gefahr bestand, denn nun durften die Fluggäste endlich aussteigen. Gern hätte ich Ihre Minen gesehen und ihre Kommentare gehört. Aber leider sind die ankommenden Fluggäste von den abfliegenden so vollständig getrennt, dass nicht der geringste Kontakt möglich ist. Ich konnte nur sehen, wie sie sich eilig über die Brücke entfernten. Dann kam eine neue Durchsage, dass wir wegen eines kleineren technischen Problems noch etwas Geduld aufbringen müssten. Viele meiner Mitreisenden sahen nervös auf ihre Armbanduhren
Endlich, nach einer weiteren halben Stunde durften wir das Flugzeug betreten. Mein Platz war gerade hinter der linken Tragfläche, so dass ich einen guten Blick auf das Triebwerk und die Monteure hatte. Allerdings konnte ich nicht in das Innere der Düse sehen, weil die mir abgewandte Seite geöffnet worden war. Die Haube aus dünnem Blech sah nicht gerade massiv aus, sie wurde von einer dünnen Stange gehalten, der man ansah, dass sei kein großes Gewicht zu stützen hatte. Das Ganze wirkte irgendwie dünn und flatterig. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie dieser Fetzen dünnes Blech bei Geschwindigkeiten von rund 800 Stundenkilometern eine feste Hülle abgeben sollte. Andererseits hatte ich noch nie davon gehört, dass sich die Haube eines Triebwerks im Flug entblättert hätte. Die Männer draußen standen nur herum, als würden sie auf etwas warten. Vielleicht fehlte das passende Ersatzteil. Sie schienen miteinender zu diskutieren, doch leider konnte ich wegen der guten Schallisolierung der Fenster nichts hören. Einige hatten die Hände in der Hosentasche, einer kratzte sich am Kopf.
Nun endlich meldete sich der Kapitän zu Wort. Er hatte wohl das Gefühl, dass er uns eine Erklärung schuldig war. "Meine Damen und Herren, hier spricht Kapitän Schumann. Ich begrüße Sie im Namen der Crew. Für die Verzögerung von wahrscheinlich zwei Stunden möchten wir uns entschuldigen. Leider wird der Flug durch ein kleines technisches Problem aufgehalten. Ein Ventil, dass nach der Landung eigentlich geschlossen sein sollte, stand am Boden noch offen, wie uns die Bordinstrumente angezeigt haben. Das Teil wird nun ausgewechselt. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, unser Chefingenieur Drahtlos kümmert sich persönlich um die Sache."
Es traf mich wie ein Blitz, mein Herz schlug bis zum Hals, im Magen wurde mir flau und mein Blickfeld wurde unklar. Drahtlos hier? Ich war mir doch sicher, dass er irgendwo ganz weit weg war! War er nicht seit Jahren verschollen? Ich überlegte angestrengt, ob ich mich verhört haben konnte. Oder handelte es sich vielleicht nur um eine zufällige Namensgleichheit? Mit großer Anstrengung gelang es mir, die Fassung wiederzugewinnen. Ich beobachtete verstohlen die anderen Fluggäste. Niemand schien auch nur im mindesten beunruhigt. Einige lasen Zeitung, andere schauten gelangweilt aus dem Fenster.
Nun meldete sich die Stewardess zu Wort: "Meine Damen und Herren, bitte schnallen Sie sich noch nicht an. Das Flugzeug wird noch betankt. Wegen der Zeitverzögerung konnten Sie ausnahmsweise schon vorher einsteigen. Aber für den Fall, dass Sie das Flugzeug ganz schnell verlassen müssen, wäre der Gurt eher hinderlich." Diese Auskunft beruhigte außerordentlich. Mir wurde wieder schlecht.
In diesem Moment kam ein weiterer Werksattwagen angefahren, und zwar so schnell, dass ich einen Moment dachte, der Fahrer wolle unser Flugzeug rammen. Mit einer sportlichen Bremsung bei eingeschlagenem Lenkrad hielt der Wagen dicht neben der immer noch geöffneten linken Düse. Ein kleiner, schon etwas älterer Mann mit schütterem Haar stieg aus. Er trug einen grauen Kittel und unterschied sich auch sonst irgendwie von den anderen Monteuren in ihren leuchtend roten Overalls. Die anderen Männer schienen ihn schon erwartet zu haben. Ich sah deutlich, dass der Neuankömmling in der rechten Hand ein langes Stück Draht und in der linken eine gewöhnliche Kombizange hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Sollte das Drahtlos sein? Der Angstschweiß brach mir aus, ich wollte aufspringen und fliehen. Aber meine Glieder waren schwer wie Blei. Ich wollte schreien und die andern warnen. Aber meine Kehle war wie zugeschnürt.
Draußen näherte sich die Reparatur ihrem Ende. Ich sah Drahtlos auf der Leiter stehen und an den Innereien des Triebwerks hantieren. Allerdings hatte ich keinen genauen Einblick, da er auf der mir abgewandten Seite arbeitete. Nur seinen rechten Ellbogen konnte ich sehen. Es sah aus, als würde er mit der Zange einen Draht zusammenzwirbeln. Die anderen Männer sahen ihm interessiert zu. Sie zeigten ein zuversichtliches und entspanntes Lächeln, so als wollten sie sagen, gut dass Drahtlos mal wieder die richtige Lösung wusste, da hätten wir auch selbst drauf kommen können. Einige lachten und schlugen sich auf die Schenkel. Aber ihre Zuversicht konnte mich nicht täuschen. Ich wusste ja nur zu gut, dass er immer schon ein großes Talent hatte, andere von seinen technischen Lösungen zu überzeugen, die dann letztlich doch in die Katastrophe führten. Mir wurde wieder ganz übel und mein Blickfeld verengte sich. Laute Geräusche tobten in meinen Ohren. Dazwischen konnte ich ganz deutlich die Stimme meiner geliebten Frau hören: "Steig aus, Piet, noch ist es nicht zu spät!"
Jetzt wurde die Kabinentür geschlossen. Eine Stewardess begann mit ihren Sicherheitsunterweisungen. Sauerstoffmasken, Notausgänge, der Umgang mit den Schwimmwesten. Was sollte das auf einem Innlandsflug! Gab es hier irgendwo ein Wasser für die Notlandung? Hatte überhaupt schon irgendwann einmal auch nur ein einziger Fluggast dank der Schwimmweste überlebt?
Vor meinem geistigen Auge sah ich nun die Maschine im Sinkflug auf den Rhein zuschießen. Wilde Kurvenmanöver sollten dazu diesen, möglichst doch noch die Mitte des Flusses parallel zu den Ufern anzusteuern. Und dann sah ich, wie in einer steilen Rechtskurve die linke Tragfläche an der Loreley zerschellte, während die Spitze der rechten Tragfläche gleichzeitig die Radarantenne eines Frachtkahns abtrennte. Dieses Bild bleib dann jäh stehen. Alle Bewegungen hörten auf. Bin ich jetzt tot? Aber die Kabine ist doch in diesem Moment noch völlig intakt! Der Aufprall steht doch erst noch bevor! Dann wurde mir bewusst, dass die menschliche Wahrnehmung eine Verzögerung von rund 100 Millisekunden mit sich brachte. Eine Zehntelsekunde vor dem Aufprall, das ist der letzte Augenblick, der noch klar zu erkennen ist. Ich rechnete nach. Bei einer geschätzten Geschwindigkeit von 600 Stundenkilometern, macht 167 Meter pro Sekunde, legte das Flugzeug in 100 Millisekunden nur 16,7 Meter zurück. Mein letztes Standbild zeigte aber einen Abstand von mehr als 50 Metern bis zum geschätzten Aufschlagpunkt an einem Felsen, der nahe des Ufers aus dem Wasser ragte. Demnach musste die Felsenberührung des linken Flügels zu einer Explosion des Flugzeugs noch in der Luft geführt haben, was aber auch nicht ganz sicher war. Als technisch interessierter Mensch möchte man eigentlich genau wissen, wie man stirbt. Die fehlenden 100 Millisekunden hatten mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.
"Ist Ihnen übel? Sie müssen sich jetzt anschnallen!" Vor meinem Sitz stand die Stewardess. "Ist die Tür noch auf?", wimmerte ich, "Ich möchte aussteigen!" "Das geht jetzt nicht mehr, mein Herr. Wir befinden uns schon auf dem Weg zur Runway." "Aber die Reparatur... Der Draht ...". "Das ist doch alles schon lange fertig, seit zehn Minuten sind wir klar zum Abflug!" Sie sah mich besorgt an. Dann holte sie aus ihrer rechten Uniformtasche ein kleines Fläschchen. "Trinken Sie das mal, dann wird Ihnen gleich besser".
Sie hatte recht. Schon kurz nach dem Start legte sich meine Anspannung. Wie durch einen dünnen Schleier sah ich wie das Flugzeug durch die Wolken stieß und die strahlende Sonne alles in gleißend helles Licht tauchte. Ein leichtes Schaukeln des Flugzeugs wirkte irgendwie beruhigend. Ich erinnerte mich an meine früheste Kindheit, als meine Mutter mich im Kinderwagen durch die Stadt schob. Dieses völlige Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit verscheuchte alle Sorgen und Ängste. Ich wusste zwar noch genau, was vorhin am Flughafen geschehen war und dass ich wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben Dietrich Drahtlos persönlich gesehen hatte. Auch sah ich noch vor mir, wie er das Triebwerk mit einem Stück Draht und einer Kneifzange repariert hatte. Und die potentielle Gefahr dieses Vorgehens war mir bewusst. Aber alles war mir sooo egal. Welchen Unterschied machte es bei 6 Milliarden Menschen auf der Erde schon, wenn ein einzelnes Flugzeug abstürzt. Ich war zwar hellwach, aber zugleich total entspannt.
Komisch, ich wusste vorher gar nicht, dass man Valium an Fluggäste austeilt. Aber wahrscheinlich gab es das nur bei dieser einen Fluggesellschaft, bei der Dietrich Drahtlos als Chefingenieur arbeitet.
Irgendwann schien einmal die Sonne von schräg vorn auf die Düse. Die Spiegelung auf dem glatten Metall zeige eine ganz kleine Ausbeulung. Das musste die Stelle sein, wo er den Draht zusammengedreht hat. Drahtlos hätte ihn vielleicht doch lieber etwas kürzer abkneifen sollen. Möglicherweise drückte jetzt die Haube auf irgendwelche wichtigen Teile. Dabei könnte es auch zu größeren Vibrationen kommen, was wiederum die Bildung von Rissen förderte. Wahrscheinlich tropfte jetzt schon laufend etwas Kerosin auf die elektrischen Hilfsaggregate. Wenn dann die ersten Flammen an der Haupttreibstoffleitung züngelten, konnte es nicht mehr lange bis zum Ausfall des linken Triebwerks dauern.

Ach, scheißegal, bis München wird das ganze schon irgendwie gerade noch halten!

Aber dann kam eine neue Durchsage des Kapitäns: "Meine Damen und Herren, bitte schnallen Sie sich an und sprechen Sie Ihr letztes Gebet. In wenigen Minuten stürzen wir ab." Das letzte, was ich dann von diesem Flug noch mitbekam, waren einige harte Stöße und dumpfe Geräusche. Irgend etwas hielt mich an den Schultern gepackt und schüttelte mich brutal hin und her.
Es war wieder die freundliche Stewardess. Sie hatte gewartet, bis alle anderen Fluggäste ausgestiegen waren und mich dann erst geweckt. "Na sehen Sie, das war doch ein wunderbarer Flug! Und Sie haben sich so gut entspannt, dass Sie sogar noch eingeschlafen sind."
Die Reise hätte ich mir übrigens sparen können. Ich kam viel zu spät an und war auch nicht richtig fit, wahrscheinlich handelte es sich um die Nachwirkungen des Valiums. Einer wichtigen Besprechung konnte ich kaum folgen, man schaute mich öfter verwundert an, und am Ende wurden Beschlüsse gefasst, die ich nicht im Mindesten beeinflusst hatte. Am Abend verpasste ich den Rückflug, was mir auch gar nicht so unrecht war, weil ich nicht ausschließen konnte, dass ich wieder die von Drahtlos reparierte Maschine benutzen würde.
Auf der langen Rückreise mit dem Intercityzug ging es mir eigentlich ganz gut. Nur ein seltsames Geräusch vom rechten Radlager der zweiten Achse unseres Wagons bereitete mir Sorgen. Ein heiß gelaufenes Lager war nicht nur einmal die Ursache für ein schweres Eisenbahnunglück gewesen.


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