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Kurzgeschichte


Piet Copper

Der plötzliche Abschied des Doktoranden Drahtlos

Gerechtigkeit ist ein großes Ziel. Fast jeder hatte schon einmal das Gefühl, übergangen und betrogen worden zu sein. Aber darf man die Gerechtigkeit in die eigene Hand nehmen? Darf man eigenmächtig einen Ausgleich für begangenes Unrecht suchen? Spontan wird jeder mit nein antworten. Aber in einem konkreten Fall ist das oft nicht mehr so eindeutig. Vielfach wird man einem solchen Verhalten klammheimlich zustimmen, besonders wenn man selbst betroffen ist oder ein befreundeter Mensch. Und trotzdem muss es falsch sein! Diese Fragen bewegten mich, als ich kürzlich eine seltsame Geschichte von meinem Freund Dietrich Drahtlos hörte.

Es war auf einer längeren Bahnreise, als ich zufällig auf einen alten Bekannten des Ingenieurs Drahtlos traf. Ich hatte das Manuskript zu meiner Geschichte über Drahtlos dabei und war mit Korrekturen beschäftigt. Mir gegenüber saß ein schon etwas betagter Herr, der meist versonnen aus dem Fenster sah. Zunehmend schien aber mein Papier seine Aufmerksamkeit zu erregen. Als ich es einmal zugeklappt neben mich auf den freien Sitz legte, bat er mich ganz direkt, ein Blick drauf werfen zu dürfen. "Dietrich Drahtlos, den Namen kenne ich ..." Ich gab es ihm gern. Er las aufmerksam die ersten Seiten und sagte dann: "Das ist er, Dietrich, mein alter Studienkollege aus München. Seltsam, seit damals habe ich nie wieder etwas von ihm gehört." Wir unterhielten uns dann angeregt, denn er war höchst interessiert, was aus Drahtlos geworden war. Dass ich den letzten Verbleib des Ingenieurs nicht kannte, schien ihn nicht zu verwundern, denn, so sagte er mir, es seit typisch für Drahtlos, plötzlich zu verschwinden. Und dann erzählte er mir eine merkwürdige Geschichte, die ein ganz neues Licht auf Drahtlos warf. Vielleicht birgt sie sogar den Schlüssel zu vielen Fragen nach seiner Person, seinen Katastrophen und seinem höchst eigenwilligen Umgang mit der eigenen Verantwortung als Ingenieur.
"Dietrich war ein sehr verschlossener Mensch. Zehn Semester haben wir zusammen studiert, ohne viele Worte miteinander zu wechseln. Aber einmal saßen wir in einer Klausur nebeneinander. Ich weiß noch, es ging um Thermodynamik. Ich hatte große Probleme mit der Aufgabenstellung. Er dagegen schien gut voranzukommen. Dann, als der Aufsicht führende Professor uns gerade seinen Rücken zuwandte, schaute Dietrich kurz auf meine fast leeren Klausurbögen. Kurze Zeit später landete plötzlich ein Löschblatt bei mir, auf dem ganz schwach mit Bleistift eine Formel geschrieben stand. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Die ganze Zeit hatte ich in die falsche Richtung gedacht. Dietrich hat mich damals gerettet. Nach der Klausur wollte ich mich bei ihm bedanken, aber er war plötzlich weg. Auch danach kriegte ich ihn nie zu fassen. Erst sehr viel später, schon nach dem Diplom, als wir beide dabei waren, unseren Doktor zu machen, hat er mich einmal um einen Gefallen gebeten. Leider war das kurz bevor er seine Habilitation geschmissen hat. Ich selbst habe es dann mit Ach und Krach geschafft.
Dietrich hatte beim Professor Meinrich damals die Forschungen zum Impuls-Stoßgenerator angefangen. So am Rande habe ich davon mitbekommen. Es ging darum, ein Schwungrad auf extreme Drehzahlen zu beschleunigen und die gespeicherte Rotationsenergie in einem kurzen Moment durch einen besonderen Generator in elektrische Energie umzusetzen. Die Idee war, dass man für besondere Prozesse Impulsleistungen von einigen Megawatt zur Verfügung stellen konnte. Die Sache ist ja dann später tatsächlich zum Einsatz gekommen, nur hat leider Dietrich selbst nichts davon gehabt. Eines Tages entdeckte ich nämlich ganz unerwartet einen Fachartikel von Prof. Meinrich, in dem er alle wesentlichen Erkenntnisse von Dietrichs Arbeit ausbreitete. Klar, die Sache war unter Meinrichs Leitung gelaufen. Aber Dietrichs Doktorarbeit war damit praktisch im Eimer. Ich lief sofort zu Drahtlos und zeigte ihm den Artikel. Er setzte sich ganz still auf einen Stuhl im Labor und las alles ganz ruhig durch. Ich hatte erwartet, dass er laut fluchen würde, oder dass er wütend zu Meinrich gehen würde, um ihn zur Rede zu stellen, aber nichts von alledem geschah. Er sagte danke und arbeitete dann einfach weiter.
Drei Tage später kam er zu mir und sagte, er müsse mich mal um einen Gefallen bitten. Natürlich hab ich mich gefreut, weil er noch was bei mir gut hatte. Aber um was er mich bat, kam mir gleich etwas seltsam vor. Ich sollte nur vor seinem Labor stehen und klopfen, wenn irgend jemand vorbeikäme. Also gut, ich fragte nicht lange und stellte mich auf den Gang. Er ging rein und startete seine Maschinen. Das Geräusch kannte ich schon. Ein langsam ansteigendes Summen, wenn der Antriebsmotor die Schwungmasse beschleunigte. Es kam auch niemand vorbei. Nach kurzer Zeit kam Dietrich dann raus und zog mich etwas zur Seite. "Was ist denn los?" fragte ich. "Nichts ist los, bleib hier stehen, geh bloß nicht näher an die Tür." Ich wurde nervös. Das bekannte Summen schwoll langsam an. Dietrich sah irgendwie angespannt aus. Dann bemerkte ich, dass die Frequenz über den üblichen Wert anstieg. Anscheinend versuchte Dietrich einen neuen Drehzahlrekord. Ich erwartete natürlich, dass sich die Drehzahl bei einem noch vertretbaren Grenzwert einpendeln würde. Aber die Sache ging immer weiter. "Bist du verrückt, Dietrich, das Ding geht hoch!" "Sei ruhig und blieb hier stehen!" Er hielt mich mit eisernem Griff am Arm fest. Ich wollte mich losreißen, um ins Labor zu rennen und den Notschalter zu drücken. Ich war damals wesentlich kräftiger als Dietrich und hätte es fast geschafft. Aber dann tat er etwas, was ich ihm nie zugetraut hätte. Er verabreichte mir mit seiner freien Rechten einen Kinnhaken, der mich zu Boden gehen ließ. Einen Augenblick war ich wie benommen. Ich sah ihn fassungslos an. Er aber blickte wie gebannt auf die Tür des Labors. Und in dem Moment gab es drinnen eine ungeheure Explosion. Die Tür zersplitterte, Metallteile flogen bis auf den Gang. Irgend etwas sauste dicht an meinem Kopf vorbei. Also ohne Dietrichs Kinnhaken säße ich jetzt nicht hier.
Wenige Sekunden nach der Explosion war alles ganz still. Wir quetschten uns durch die zersplitterte Tür und betraten das Labor. Es sah aus wie ein Trümmerfeld. Von den Fenstern war fast nichts mehr übrig, ein schwerer Transformator steckte halb in der Wand, alle Labortische waren zerbrochen, kein Stuhl war mehr als solcher zu erkennen. Alles war übersät mit Stahlsplittern, von denen die meisten in der Wand steckten. Dietrich lief zuerst zum Fenster, schaute hinaus und schien erleichtert, weil draußen niemand zu Schaden gekommen war. Auf dem Boden des Labors lag ein Teil eines großen Kugellagers. Es war rot glühend und brannte sich langsam in den Linoleumboden. Dietrich nahm einen halb zerbrochenen Glaskolben, ging zum Wasserhahn und füllte ihn zur Hälfte. Dann ging er zu dem glühenden Teil und goss das Wasser ganz langsam und bedächtig aus großer Höhe in einem dünnen Strahl darüber aus. Es sah irgendwie gespenstisch aus, Dietrich in dem ganzen Chaos, und dann diese fast sakrale Handlung, so wie ein Priester bei der Taufe das Weihwasser über einen Säugling gießt, völlig unbeeindruckt von dessen Geschrei. Es zischte und dampfte, dann war der kleine Brand gelöscht. Dietrich hatte sich dabei an dem Glas geschnitten. Blut tropfte auf den Boden. Es schien ihn aber nicht zu kümmern. Er nahm wie in Gedanken sein Taschentuch und wickelte es um die Wunde.
Dann kamen draußen auf dem Gang Leute angelaufen. Einen Moment später standen etwa zehn Mann im Labor, alle sahen völlig schockiert aus. Prof. Meinrich war natürlich auch da. Er sah Dietrich fassungslos an: "Mein Gott, Drahtlos, wie konnte das passieren?" Drahtlos ging schweigend auf den Professor zu und hielt ihm die Hand hin. Meinrich zuckte etwas zusammen, so als erwartete er einen Angriff. Er muss wohl ein schlechtes Gewissen gehabt haben. Aber dann reichte er Dietrich die Hand. Beide standen einen Moment da und sahen sich fest in die Augen. Es sah aus wie auf einer Beerdigung, bei der man sein Beileid ausdrücken möchte und dazu eigentlich keine Worte braucht. Aber dann sagte Dietrich: "Herr Professor, es tut mit aufrichtig Leid um all die Arbeit, die Sie in dieses Projekt gesteckt haben." Meinrich sah ihn nur an und sagte gar nichts. Dann drehte Dietrich sich um und ging aus dem Raum. Er winkte mir, ich solle mitkommen. Meinrich rief ihm noch nach: "Bleiben Sie doch, Drahtlos, was soll denn jetzt werden!" Aber Dietrich sagte nur: "Ich muss mal zum Arzt, hab mich hier eben etwas verletzt." Dann ging er ohne eine sichtbare Regung aus dem Institut, und ich neben ihm.
Es war später Nachmittag. Dietrich lud mich ein, mit ihm einen Biergarten zu besuchen. Dort haben wir dann zusammen etliche Gläser getrunken. Den ganzen Abend habe ich versucht, mit ihm darüber zu reden, wie es denn jetzt weiter gehen sollte. Ich dachte, da müsste doch noch irgend was zu retten sein. Aber er war nicht daran interessiert. Er meinte, er wolle nur mit einem guten Freund ordentlich einen saufen, und das sei sein Abschied von der Uni. Ihm sei das Geld ausgegangen, noch einmal zwei Jahre könne er sich nicht leisten. An dem Abend waren wir beide gehörig blau. Wir sind spät in der Nacht nach Hause getorkelt, er hat mich bis vor meine Tür begleitet, hat sich verabschiedet und ist dann allein weiter gegangen. Das war das letzte, was ich von ihm gesehen habe. Meinrich hat mich dann später immer wieder gefragt, aber ich konnte ihm auch nichts sagen. Dietrich ist einfach verschwunden, ohne sich irgendwo abzumelden.
Es hat übrigens dann noch eine Untersuchungskommission mit Mitgliedern der Universität gegeben. Das war ziemlich peinlich für Meinrich. Er wusste nichts Genaues über das Antriebssystem, zur Drehzahlbegrenzung konnte er überhaupt nichts sagen, und irgendwelche Berechnungen zur Festigkeit der Schwungmasse hatte er auch nicht. Am Ende war allen klar, Dietrich hatte die Arbeit gemacht, und Meinrich hatte die Früchte geerntet. Ich wurde auch befragt, konnte aber nur sagen, dass Dietrich kurz draußen auf dem Flur war, um etwas mit mir zu besprechen. Die ganze Zeit über lag der Sabotageverdacht irgendwie in der Luft, wurde aber von niemandem ausgesprochen. Es wäre einfach zu peinlich für die Universität gewesen. Und Dietrich konnte man nicht befragen, weil er weg war. Man hätte ihn anzeigen können, dann hätte die Polizei ihn sicherlich gefunden. Aber einen öffentlichen Skandal wollte keiner, am allerwenigsten Meinrich. Er bemühte sich auffallend, nicht den geringsten Vorwurf gegen seinen Doktoranden auszusprechen. Am Ende wäre auch nichts anderes dabei rausgekommen als ein bedauerlicher Unfall. Ich hatte zwar eine ganz grobe Vorstellung, wie Dietrich es gemacht hatte, aber die Beweise hatten sich ja vollständig selbst vernichtet."
Diese Geschichte aus Drahtlos´ Studienzeit machte mich tief betroffen. Kann es denn sein, dass ein einzelnes Erlebnis einen Menschen für sein ganzes Leben prägt? Ich musste an das Kraftwerk denken, das Drahtlos durch einen kleinen Fehler zerstört hat. Beide Unfälle hatten gewisse Ähnlichkeiten. Sollte die Sache an der Uni Absicht, die im Kraftwerk aber nur ein Versehen gewesen sein? Noch drängender erschien mir allerdings die Frage, ob man diesen offenbar absichtlich herbeigeführten Unfall an der Universität entschuldigen oder verurteilen muss. Zum einen wäre ein Doktor Dietrich Drahtlos vielleicht mit wesentlich weniger Katastrophen ausgekommen, die eigentliche Schuld trug also wohl sein Professor. Ich selbst neige zwar nicht zu derartigen Ausbrüchen, aber ein gewisses Verständnis für Drahtlos kann ich nicht verhehlen. Andererseits kann man die hehren Grundsätze der Berufsethik nicht hoch genug einschätzen. Letztendlich wäre es sicher schlecht um uns alle bestellt, wenn jeder Ingenieur seine persönlichen Konflikte durch technische Katastrophen lösen wollte.


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